SILO/Architekturgeschichte
Bildzitat
Die Getreidesilos sind das architektonische Rendezvous zwischen Agrarwirtschaft und Moderne. Die Mitte des 19. Jahrhunderts in Amerika entwickelten Bauten mit ihrer einfachen, konkreten und funktionalistischen Form wurden von den europäischen Architekten bewundert und verklärt. Von Gropius über Le Corbusier bis Worringer galten sie als Beweisstück, für eine Fiktion. Im Kolhaasschen Sinne könnte man von falschen Fakten sprechen. 1913 publizierte Walter Gropius erstmals Fotos von amerikanischen Silobauten, die Bildunterschrift verortet das Gebäude in Buenos Aires, 1922 verwendet Le Corbusier das gleiche Bild, allerdings leicht modifiziert, er ließ das Satteldach per Fotomontage entfernen, und transferierte das Gebäude nach Kanada. 1927 wurde dann dieses retuschierte Foto von Wilhelm Worringer übernommen. Keiner hatte dieses Gebäude je persönlich gesehen. Den „Architekturdichtern“ der Moderne galten die Silos als Inspiration und Versprechen.
Das Speicherbauwerk bzw. der Silo wurde erstmals von Walter Gropius als Vorbild für die Architektur im Jahrbuch des Deutschen Werkbunds 1913 gepriesen. Die Aufnahmen von Getreidespeichern und Fabrikbauten aus Buffalo waren seinem Artikel „Die Entwicklung moderner Industriebaukunst” vorangestellt. Selbst hatte er sie nicht zu Gesicht bekommen, und es bleibt rätselhaft, woher er die Fotografien bezogen hatte. Da er aber selbst mit dem Bau eines Industriebauwerks, den FAGUS-Werken in Alfeld bei Hannover (fertiggestellt 1914) beauftragt war – die ihn neben Frank Lloyd Wright zum Gründer einer modernen Architektur werden ließ –, liegt die Vermutung nahe, dass er diese Abbildungen seinem damaligen Bauherrn verdankte. Der Erfolg dieser geschickten Vereinnahmung des technischen Bauens zu höheren ästhetischen Zwecken durch Architekten sollte sich zu einem Topos der modernen Architekturrhetorik entwickeln. Le Corbusier „lieh” sich die Fotografien aus und machte sie 1922 zu einem Kernstück seines Pamphlets Vers une architecture (Ausblick auf eine Architektur), als Vorbild moderner Gebäudemaschinen: „Ohne groß an Architektur zu denken, sondern ganz einfach geleitet durch die Ergebnisse der (aus den Gesetzen des Universums abgeleiteten) Berechnung und durch die schöpferische Idee von einem LEBENSFÄHIGEN ORGANISMUS, wenden die INGENIEURE von heute die baulichen Grundformen an; sie fügen sie den Regeln entsprechend zusammen und rufen so Architektur-Empfindungen in uns hervor; sie bringen das Menschenwerk mit der Weltordnung in Einklang
. Man sehe sich die Silos und Fabriken in Amerika an, prachtvolle ERSTGEBURTEN der neuen Zeit. DIE AMERIKANISCHEN INGENIEURE ZERMALMEN MIT IHREN BERECHNUNGEN DIE STERBENDE ARCHITEKTUR UNTER SICH.”4 Neben vielen anderen Neuerungen führte Corbusier auch den Kommandoton in die Architektur ein, was nicht ohne Wirkung blieb. Fortan waren die Silos nicht mehr wegzudenken aus dem Architekturdiskurs, und Erich Mendelsohn musste selbstverständlich (außer ihm auch Martin Wagner 1924, Ernst May 1925 – ohne publizistischen Ertrag) die Bauten auf seiner Amerikareise 1924 in Augenschein nehmen. Es waren nicht die Hochhäuser, die ihn besonders beeindruckten, diese waren „nur Zwischendinge zu meinen Siloträumen”.5 Unter der Kapitelüberschrift „Das Gigantische” versammelte er in seinem Bildband neben Aufnahmen des Broadway auch mehrere Fotografien von Getreidespeichern in Buffalo und Chicago. Selbstverständlich bedurfte es des entdeckenden Blicks des aufgeklärten Europäers, der „aus nackter Zweckform abstrakte Schönheit entstehen sieht”.6 Dagegen vergleicht der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer 1927 die amerikanischen Silobauten (selbstverständlich ohne diese je gesehen zu haben und unter Verwendung eines Fotos, das bereits Gropius 1913 benutzte) mit der altägyptischen Baukunst. Für beide ist, so Worringer, die „Riesenhaftigkeit“ charakteristisch, allerdings strotzt die eine (die alt-ägyptische) von „natürlicher Urwüchsigkeit des Großgedankens“, die andere, die amerikanische dagegen ist repräsentativ für „eine kalte repräsentative Großsucht, deren ganz imponierender Aufwand im Grunde nur dazu dient, eine ideelle Leere mit materiellen Rekordleistungen zu übertonen“.7 Einmal davon abgesehen, dass hier Äpfel mit Birnen, Kult- mit Zweckbau verglichen wird, ist diese dezidiert negative Bewertung der zivilisatorischen Leistungen der USA das Spiegelbild der Begeisterung, die Mendelsohn empfindet angesichts der Silobauten. Diese charakterisiert er zwar als „Kindheitsformen, unbeholfen“ und stellt fest, dass sie „primitiv in ihren Funktionen des Aufsaugens und Wiederausspeiens“ seien (die US-amerikanischen Speicherbauwerke waren den europäischen ingenieurtechnisch weit überlegen), sieht hier aber das „Vorstadium einer zukünftigen sich erst ordnenden Welt“.8
Bekanntlich wurde der International Style (mit seinen Hauptexponenten Gropius und Le Corbusier) in Europa erfunden und dann in den 1930er Jahren in die USA exportiert. Was wiederum Reyner Banham dazu veranlasste, etwas genauer hinzuschauen. In seiner Untersuchung eben dieser wiederholt dargestellten Getreidespeicher in Buffalo – in A Concrete Atlantis von 1986 – stellt er fest: „… lassen sich zumindest die Fabriken als Endprodukt einer Bautradition sehen, deren Ursprung eindeutig in Europa lag und sogar bis ins späte Mittelalter zurückreichte, bis zu den großen Lagerhäusern der Hanseatischen Häfen und anderen mehrgeschossigen Bauten für den Handel und später für die produzierende Industrie”.9 Banham sieht im Interesse der europäischen Architekten an den Getreidespeichern ein rhetorisches Manöver: „Die Formen der Fabriken und Getreidespeicher waren als Ikonographie zur Hand, eine Formensprache, mit der Versprechen abgegeben, die Zugehörigkeit zum modernen Credo bekräftigt und der Weg gewiesen werden konnte zu einer Art technologischem Utopia.”10 Über den Umweg „Amerika” konnten sie neu entdeckt und als Erneuerung der Architektur propagiert werden. Dem amerikanischen Ingenieur wurde so erst die Schönheit seiner technischen Bauwerke bewusst gemacht. Bedauerlicherweise fielen die gleichen technischen Erneuerungen, wenn sie denn in Europa stattfanden, der Nichtbeachtung anheim (sieht man vom Bildwerk von Bernd und Hilla Becher ab). Obwohl diese technischen Bauten – wenn auch mit einer erheblichen Zeitverzögerung, wie das Beispiel Niederösterreich zeigt – die europäische Landschaft nachhaltig veränderten, taugten sie nicht mehr als Vorbild architektonischer Gestaltung. Wie auch? Denn es war ja auch nicht die funktionale Einbindung technischer Bauwerke in die räumliche Organisation ihrer Umwelt, die zum Gegenstand gemacht wurde, sondern ihre Erscheinungsform. Hätte man ihre tatsächliche Auswirkung auf die räumliche Entwicklung zum Gegenstand gemacht, wäre möglicherweise ein anderes Verständnis ihrer Bedeutung als Teil eines zukünftigen Städtebaus möglich gewesen. Dies zeigt der Historiker William Cronon am Beispiel von Chicago.11 Der dampfgetriebene Getreideaufzug zusammen mit dem ebenfalls dampfgetriebenen starren oder beweglichen Verteiler mit Auslegerarm, ermöglichten Ende des 19. Jahrhunderts zusammen mit der neuartigen Konstruktionsweise der Getreidesilos in zylindrischen Stahlbehältern erst die Bewältigung der Getreidemengen, die durch die Eisenbahn herangeschafft und auf die Schiffe verladen wurden – und den Aufstieg Chicagos zur Metropole. Die Getreidesilos manifestierten eine neue räumliche Organisation, die über das Bauwerk hinausging und eng mit der Verkehrsinfrastruktur verbunden war. Letztendlich wurde eine ganze Region einer Transformation unterzogen: „The Great West”, die Region westlich des Ohio, ging eine rural-urbane Symbiose mit Chicago ein. Buchstäblich blieb kein Stein auf dem anderen – denn was natürlich gegeben war, wurde nun den Erfordernissen einer industrialisierten Bewirtschaftung angepasst.
Interessant ist das in Niederösterreich die Silos erst zu einem Zeitpunkt auftauchen, wo sie in Amerika schon wieder verschwinden, die Blütezeit der Hafenstandorte wie zB Buffalo ist vorbei, die riesigen Siloanlagen werden abgetragen oder umgenutzt. Die Zeitverzögerung in NÖ hängt auch mit der kleinteiligeren Agrarstruktur zusammen. Die ländlichen Genossenschaften haben nie wirklich mit der Tradition gebrochen und haben ihre „modernen“ Korntürme selbstbewusst mit volkstümlichen und religiösen Kunstwerken geschmückt, Sgraffitos, Mosaike und auch Plastiken wurden angebracht. Am beeindruckenstens ist eine 54 Tonnen schwere Skulptur am Silo in Waidhofen an der Thaya. Der „Steinerne Bauer“ des Bildhauers Carl Hermann ist die symbolträchtige Figur eines Sämannes; Fruchtbarkeit, Reichtum und Bodenhaftung sind die Werte die es zu erhalten gilt. In dieser Gleichzeitigkeit von Tradition, Moderne und vor allem Pragmatismus, könnte man die Genossenschaftssilos vielleicht als „Quasiobjekte“ im Sinne Bruno Latours bezeichnen, der behauptet „Wir sind nie modern gewesen“.
* Dieser Artikel wurde erstmals veröffentlicht in: Heidi Pretterhofer, Dieter Spath, Kai Vöckler, LAND. Rurbanismus oder Leben im postruralen Raum, HDA Graz 2010.
4 Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur (1922). Braunschweig, Wiesbaden 1982, S. 40
5 Erich Mendelsohn, Briefe eines Architekten (hg. v. Oscar Beyer). München 1961, S. 67.
6 Erich Mendelsohn, Amerika. Bilderbuch eines Architekten (1926). Braunschweig 1991, S. 40.
7 Wilhelm Worringer, Ägyptische Kunst. Probleme ihrer Wertung. Mücnchen 1927, S. 58.
8 Mendelsohn, a. a. O., S. 37.
9 Reyner Banham, Das gebaute Atlantis. Amerikanische Industriebauten und die Frühe Moderne in Europa (Engl. 1986). Basel, Berlin, Boston 1990, S. 20.
10 Ebd., S. 14.
11 William Cronon, a. a. O.